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Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, lautet Erinnerung. Die Mehrzahl der Erlebnisse und Erfahrungen meines Daseins sind, wie bei jedem, ins Vergessen zurückgefallen. Denn das Gedächtnis ist unausgesetzt dabei, das eine auszusondern, anderes an dessen Stelle zu rücken oder durch neue Einsichten zu überlagern. Der Prozeß hat kein Ende; blicke ich die lange Strecke zurück, drängt eine Flut von Bildern heran, alle wirr und zufällig. Im Augenblick des Geschehens verband sich kein Gedanke damit, und erst nach Jahren gelangte ich dazu, die verborgenen Wasserzeichen in den Lebenspapieren zu entdecken und womöglich zu lesen. (Aus dem ersten Kapitel des Buches)
Die Welt zerbricht
Karlshorst war ein überschaubarer, im Osten der Hauptstadt gelegener Vorort, überwiegend bewohnt von mittlerem Bürgertum. Die Entstehung vom Reißbrett war seinen wohlgeordneten Straßenverläufen noch immer anzumerken, und wer, wie einer der Freunde meiner Eltern, die Dinge gern auf die Spitze trieb, mochte behaupten, das Architektenbüro sei insoweit an die Stelle der Fürstenlaune getreten. Denn zur Eigenart Berlins gehörte, daß es fremd, aber entschlossen von den preußischen Herrschern gegen die märkische Ödnis errichtet worden war. Die Stadt besaß deshalb an ihren Rändern nicht nur eine liebenswürdige Dörflichkeit, sondern eine melancholisch anziehende, von Wasserläufen und Luch durchsetzte Umgebung. An manchen Werktagen konnte man mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Gransee oder nach Nauen fahren, ohne mehr als einem Dutzend Marktweibern zu begegnen. Es gab die Paradealleen wie die «Linden» und nebenan die Dorfstraßen von Potsdam oder Köpenick.
Das Haus in der Hentigstraße, das mein Vater vor Jahren erworben hatte, lag nicht in einem der Villenquartiere des Ortes, sondern mitten im Mietshausviertel. Die Bewohner waren Facharbeiter, Beamte, Werkzeugmacher und einige Witwen. Jedes der Häuser besaß an den Seiten und im hinteren Teil des Grundstücks ein Grüngelände, meist mit einem Gewürzgarten unter ein paar Obstbäumen. Fast durchweg gab es neben der Teppichstange einen Geräteschuppen, und als Besonderheit wies unser Garten unter den Kastanienbäumen ein Turnreck sowie ein kleines, gestuftes Schwimmbecken auf, in dem wir im Sommer badeten und im Winter mit unseren Nagelschuhen die vereisten Absätze hinuntersprangen.
Vor allem die verwilderten Ecken und Ränder des Grundstücks hatten es uns angetan. Unter den Beerensträuchern schlichen wir, einen Papp-Tomahawk oder ein Messer im Mund, als edle Sioux- Indianer gegen die Comanchen herum oder dachten uns andere Kampfspiele aus. Mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Wolfgang und dem ein oder anderen Freund hielten wir gegen alle Nachbarskinder zusammen. Wir schickten Hansi Streblow zur dicken Bäkkersfrau mit dem Auftrag, «für 'n Sechser Kotzekuchen» zu kaufen, wie wir die zusammengebackenen Teigreste nannten, spannten am Hauseingang schräg gegenüber, wo der ewig säuerliche Lehrer Müllenberg zur Untermiete wohnte, eine Schnur, über die er prompt ins Stolpern geriet, oder kletterten über den Zaun auf das benachbarte Pfarrgrundstück und legten einen abgetragenen, verschwitzten Büstenhalter von Werweißwoher auf den Gartenweg. Im Gebüsch versteckt beobachteten wir mit unterdrücktem Lachen, wie der alte Pfarrer Surma beim Breviergebet das Kleidungsstück entdeckte, es nach kurzem Stutzen kopfschüttelnd aufhob und schließlich, nicht ohne einen besorgt prüfenden Blick rundherum, in seiner Soutane verbarg. Da war ich fünf Jahre alt und begann gerade eine wenn auch vage Vorstellung von der Ungehörigkeit unseres Einfalls zu entwickeln.
Wir waren fünf Geschwister, alle im Abstand von zwei Jahren zur Welt gekommen: Wolfgang, 1924 geboren, war unter uns Kindern die Autorität. Auf meinen jüngeren Bruder Winfried, der lebhaft, witzig und zugleich in sich gekehrt war, folgte die anschmiegsame, von allen geliebte Hannih und darauf die oft bis zur Tollheit lebhafte Christa.
Wolfgang, wie ältere Brüder meist, war mein unbestrittenes Vorbild, und seinetwegen habe ich mich oft, aufgrund irgendwelcher ungerechter Nachreden, mit anderen angelegt. Er war mutig, schlagfertig, von einer manchmal fast hochmütig wirkenden Nachlässigkeit und hatte, als wir in die Schule kamen, nicht nur die besseren Zeugnisse, sondern auch die einfallsreicheren Ausreden. Zudem hörte ich ihn von den Müttern mancher Freunde für Eigenschaften loben, deren Sinn ich nicht verstand. «Kluger Bengel», kann sich «gut ausdrücken» und weiß sich «manierlich zu benehmen» begriff ich wohl, aber besitzt «Charme» oder «weiß den Müttern seiner Freunde den Hof zu machen» kam mir reichlich rätselhaft vor, und anders als mir wurde ihm niemals eine «freche Klappe» vorgehalten.
Meine ganze Bewunderung gewann Wolfgang im Frühjahr 1932. Damals kehrte die Do X, ein dampfergroßes, wassertaugliches Flugboot mit zwölf Propellermotoren und einem auf drei Stockwerke verteilten Fassungsvermögen von mehr als 160 Personen, nach einer Atlantiküberquerung von New York zurück und wasserte auf dem Müggelsee, ein paar S-Bahn-Stationen von Karlshorst entfernt. Schon Wochen im voraus hatte Wolfgang meinen Eltern in den Ohren gelegen, zur Landung des Flugzeugs mit ihnen nach Friedrichshagen zu fahren. Als ihm die Bitte ein ums andere Mal abgeschlagen wurde, machte er sich am Nachmittag des 24. Mai mit zwanzig Pfennigen unbemerkt auf den Weg.
Als er abends um sechs Uhr nicht zum Essen erschien, begannen meine Eltern sich zu beunruhigen. Nach ergebnislosem Suchen bei den Nachbarn fingen sie an herumzutelefonieren, und um acht benachrichtigte mein Vater die Polizei, während meine Mutter stille Stoßgebete von sich gab. Kurz nach neun Uhr verließ sie in höchster Sorge das Haus, um die Umgebung abzusuchen, als ihr Wolfgang in der Dorotheenstraße, «bumsfidel» und mit ausgebreiteten Armen, entgegenkam. Sofort sprudelte er heraus, was er am Müggelsee erlebt hatte und wie er schon auf der Hinfahrt, noch am Bahnhof Karlshorst, ein Ehepaar kennengelernt, sich mit beiden «wie erwachsen» unterhalten, am Müggelsee einen guten Platz erobert und dann die Landung der Do X im aufspritzenden Wasser beobachtet habe. Die Leute hätten ihm sogar zwei Eiswaffeln und die Rückfahrt spendiert, so daß er noch Geld übrig habe. Am Ende seien sie bis zum Milchgeschäft Birkholz mitgekommen.
Meine Mutter war in Tränen erleichtert, aber zugleich außer sich, und nachdem sie Wolfgang vor meinen strengblickenden Vater geführt hatte, machten ihm beide die ernstesten Vorhaltungen. Wolfgang setzte neuerlich an, von seinem großen Tag mit Ehepaar, Flugboot und Eiswaffeln zu erzählen. Doch meine Mutter ließ ihn kaum zu Wort kommen. Sie ereiferte sich schließlich bis zu der Drohung, ihn bei einem nächsten derartigen Vorkommnis in den Kohlenkeller zu sperren. «Das macht mir überhaupt nichts», erwiderte der Siebenjährige mit einer bewundernswürdigen Ruhe, «denn hinterm Verschlag sind ja die Hähne für Wasser und Licht. Da komme ich leicht ran und stelle euch alles ab.» Meine Mutter hat später zugegeben, daß sie über die Unverfrorenheit dieser Äußerung sprachlos gewesen sei. Aber auch ein wenig stolz. Zunehmend sogar stolz. Ich hingegen, der die Szene durch die angelehnte Tür verfolgt hatte, war nur stolz.
Das geschah 1932. Aus etwa der gleichen Zeit rührt ein dramatisches Bild, das beim Schütteln des Kaleidoskops meiner Kindertage immer wieder auftaucht. Es stammt aus den Monaten, als der Bürgerkrieg in der zu Ende gehenden Weimarer Republik auf die Vororte Berlins übergriff. Eines Abends, nach Einbruch der Dunkelheit, polterten Schritte die Treppe herauf, und kurz danach hämmerte es ungeduldig an der Wohnungstür. Als ich aus dem Bett sprang und öffnete, stand mein Vater mit aufgerissener Jacke in der Tür. Um den Kopf trug er einen breiten, mit Heftpflaster befestigten Mullverband, auf dem sich ein verklebter schwarzer Fleck von Faustgröße abzeichnete. Er hatte zwei Begleiter bei sich, die ihn behutsam auf das Sofa betteten und so etwas sagten wie «Komm wieder auf die Beine, Junge!». Und während ich noch über den vertraulichen Ton staunte, den die beiden sich meinem Vater gegenüber herausnahmen, murmelte der einen Dank, erhob sich erstaunlich behende und verschwand, ohne mich wahrzunehmen, in einem der hinteren Räume. Verblüffenderweise hatte meine Mutter den Vorgang gar nicht bemerkt. Jetzt hörte ich nach der Entfernung des Verbandes und einer kleinen Schrecksekunde ihren Ausruf «Himmel, erbarm dich!» und wie sie zum Telefon lief, um einen Arzt herbeizurufen. Später erfuhren wir, daß eine Truppe des Rotfrontkämpferbundes in eine SPD -Veranstaltung mit dem Berliner Polizeipräsidenten Grzesinki eingedrungen war und mit Holzknüppeln auf die Saalwache des Reichsbanners eingeprügelt hatte, bis die Versammlung gesprengt war.
In den folgenden Monaten herrschte in unserem Haus ein ständiges Kommen und Gehen. Fremde Gesichter tauchten auf und verschwanden grußlos wieder. Aus dem verrauchten Herrenzimmer, wie der Arbeitsraum meines Vaters hieß, drangen Stimmen, die zwischen Kampfentschlossenheit, Sorge und Resignation hin und her schwankten. Worum es ging, war für Wolfgang und mich, deren Hauptthema natürlich die Schlägereien bildeten, ganz und gar rätselhaft. Es war von Straßenschlachten am Nollendorfplatz und im Wedding die Rede, von blutigen Auseinandersetzungen an nie gehörten Orten wie Altona oder Leipzig, und jede dieser Erzählungen lieferte uns für den Abend im Bett schauerliche Geschichten von Aufruhr, Autozusammenstößen, verlorengegangenen Kindern und schließlich, weil solche Beschreibungen nach Steigerung verlangen, von eingeschlagenen oder sogar abgehackten Köpfen. Wie wenig wir auch von alledem verstanden, erfaßten wir doch die Atmosphäre erbitterter Leidenschaft, die sich nicht nur auf den Straßen, sondern auch mit jedem Besucher in der Wohnung ausbreitete.
Ich muß an dieser Stelle einen Hinweis einschalten, der für das Verständnis der folgenden Seiten hilfreich sein kann. In diesen Passagen ist nicht selten vom klaglosen Untergang der Weimarer Republik die Rede. Es kann sich dabei nur um bruchstückhafte Erinnerungen des Sechs- bis Achtjährigen handeln, der einige naturgemäß umrißarme, erst später zusammenwachsende Bilder bewahrt hat. Das meiste ist mir aus Überlieferungen, wie sie in jeder Familie im Umlauf sind, gewärtig. Und nahezu alles hatte ein politisches Vorzeichen. Doch muß, was damals den Ereignishintergrund bildete, zumindest andeutungsweise berichtet werden, weil es im Lauf der Jahre lebensbestimmendes Gewicht gewann.
Ähnlich verhält es sich mit der Figur meines Vaters. Auch sein Bild ist überlagert von familiär Herumerzähltem, das an vielen Abenden um den Eßtisch unter dem mit Seidenstoff bespannten und mit Troddeln behängten Leuchter weitergegeben wurde. Hochgewachsen, mit Brille und knapp gescheiteltem Haar, warf er einen übergroßen Schatten, der uns Kindern so viel Furcht wie Sicherheit vermittelte. Er verstand das Leben als eine Folge von Aufgaben, die man ohne Getue, mit festen Überzeugungen und möglichst gutgelaunt abzuleisten hatte. Gerade deshalb besaß er eine niemals angefochtene oder gar in Frage gestellte Autorität. Innerhalb der Familie setzten sich denn auch schon frühzeitig Fragmente dieses hochgestellten Bildes gegen zunächst alles kindliche, später alles halbwüchsige Sträuben mehr und mehr durch.
Auch das Wesen meiner Mutter mit den damals noch eher milden, häufig etwas erstaunt aufgetanen Augen unterschied sich wohl von der Erscheinung, die ich in der Erinnerung habe. (…)
© Rowohlt Verlag
- Autor: Joachim C. Fest
- 2006, 8. Aufl., 368 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498053051
- ISBN-13: 9783498053055
- Erscheinungsdatum: 22.09.2006
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